Mittwoch, 3. September 2014



© David Moses
                                      
















ANTON PREYER

... war Drucker, ist jetzt Wissenschaftler - und schizophren.

Wenn es ihm gut geht, geht er jeden Tag in die Bibliothek und studiert Sprachen. Dann setzt er sich mit englischen und französischen Zeitschriften in den großen Lesesaal und übersetzt. So eignet er sich Wort für Wort die fremde Sprache an und setzt sie wie ein Baukastensystem wieder neu zusammen. Wenn er nicht liest, studiert er die Sprachen über das Fernsehen und das „Schwätzen“, erzählt er im schwäbischen Dialekt. Anton Preyer interessiert sich auch für Medizin, Fotografie und Musik. Und er löst gerne Kreuzworträtsel. In seinen Hemdtaschen trägt er sie auf ausgerissenen oder ausgeschnittenen Papierfetzen immer bei sich. „Wenn man das kann, kann man nicht verrückt sein“, sagt er.

Manchmal sieht man Anton Preyer auch eine Zeit lang gar nicht in der Bibliothek, dann ist es wieder schlimmer geworden. Er war bereits schon einmal in der Psychiatrie, wurde zwangseingewiesen. Wegen Schizophrenie, Alkohol- und Drogenmissbrauch.
Anton Preyer hat immer einen Begleiter bei sich – für andere nicht sichtbar. Er spricht mit ihm über Politik, die Weltsituation und seine neuesten Ideen. Der unsichtbare Gesprächspartner und Anton Preyers laute Diskussionen berühren die ihn umgebenden Personen sichtbar peinlich. Er ist kein gern gesehener Mensch, nur laut und verrückt. Auch das gehört zu seinem Problem: Inakzeptanz und Einsamkeit.

Als wir ihn ansprechen und nach seiner Lebensgeschichte fragen, zögert er keine Sekunde. Wir laden ihn zu einem Kaffee ein, betreten eine Eisdiele und kaum haben wir uns gesetzt, erzählt Anton Preyer uns von seinem Leben. Dem Leben, das ihm zum Wahn geworden ist und ihn nicht mehr loslässt. Drucker sei er einmal gewesen, doch das spiele jetzt keine Rolle mehr. Er ist unruhig, gestikuliert, verrenkt sich in Gesten und Gebärden. Oft fährt die Hand ans Kinn, grübelnd spitzt sich der Mund, und die Augen rollen unter den halb geschlossen Lidern hin und her. Wenn man Anton Preyer nach seiner Vergangenheit fragt, nach seiner Biografie und dem Leben, das noch wirklich war, wird er abweisend, um im nächsten Moment von seinem jetzigen Leben als Wissenschaftler zu erzählen. So verstricken sich Realität und Wahn, Zahlen und Fakten mit Illusionen und Träumen.

Anton ist fast 50, sein Vater starb als er noch keine 30 war, die Mutter einige Jahre später. Der Altersunterschied zwischen seinen Eltern war über 30 Jahre, erzählt er. Die Schwester blieb bei einem Urlaub auf Gran Canaria, seit dem hat er sie nicht mehr gesehen - er weiß nicht was sie macht. Gerne würde er sie wieder sehen. Seit dem seine Mutter nicht mehr bei ihm ist, lebt er alleine, zum ersten Mal. Das ist jetzt schon über 10 Jahre her. Heute bekommt Anton von einem Betreuer ein bisschen Geld für die Woche, den Rest erbettelt er.

In der Schule war er nicht überdurchschnittlich gut - eben nicht so gut wie ein „Superwissenschaftler“. Er war auf allen Schulen, wahrscheinlich absteigend.  „Ich habe nie Anerkennung bekommen.“ Jetzt ist aus ihm ein Wissenschaftler geworden. Anton hatte eine Formel erfunden – was für eine verrät er uns nicht, sie ist geheim. Er hat sie eingereicht. Doch der Bürgermeister, der Bundesnachrichtendienst, die Justizministerin, die „oberen Zehntausend“ stellten sich gegen ihn. Er wollte vor das Verfassungsgericht. Kofi Annan ließ ihn im Stich, auch wenn er als Wahrzeichen der Menschlichkeit als Schiedsstelle hätte einschreiten müssen. Auch der Papst stellte sich gegen ihn und die Wissenschaft. Amnesty International fürchtet er, die Organisation entführe Wissenschaftler.

Als er die Formel beim Bürgermeisteramt einreichte, wollte er eine Lohnerhöhung. - Das wöchentliche Taschengeld von seinem Betreuer reichte ihm vermutlich nicht mehr. - Der Bürgermeister sollte für die Besprechung der Formel einen Professor dazu holen. Doch sie setzten sich ohne ihn zusammen - und riefen die Psychiatrie.  - In diesem Jahr wird Anton Preyer einen herben Schicksalsschlag erfahren haben; in der Wirklichkeit, die für ihn nicht mehr existiert. Denn er spricht immer wieder von dieser Zeit. -  Dann, nach dem Anruf des Bürgermeisters, musste er für 2 Jahre ins Krankenhaus. Dort wollten sie ihn mit Schlangengift verderben, erinnert Anton sich, doch er hat es überlebt. Anton Preyer ist misstrauisch, hat Angst und ist wütend. Er fühlt sich allein, als Einzelkämpfer gegen den Rest der Welt.

Anton hat eine Gesellschaftstheorie. Es gibt da die oberen Zehntausend: Prominente, Regierungen, die Presse. Sie trennt ein undurchlässiger Deckel von den Unteren. Zum Beispiel Menschen, die gute Ideen und Erfindungen haben. Sie werden von den Oberen ausgenutzt, um noch mehr Geld zu bekommen. Er ist vielseitig interessiert, spricht von genetischen Fotos und Insulin. Er habe die DNA, den Zellkern von Prominenten fotografiert. Sogar den Fleck von Gorbatschow. Er schreibt Geschichten und spricht von Argentinien und Rio de Janeiro. Anton Preyer kennt sich mit vielen Dingen aus, die sein Gefängnis bunt auszufüllen scheinen. Doch er kommt nicht raus, bleibt ein rastloser Wanderer in seiner Zelle, den man von A nach B schubst.

Ich recherchiere - möchte verstehen, was Anton Preyer erzählt: I. Schizophrenie ist nicht heilbar. Aus Antons Erzählungen entnehme ich, dass er medikamentös eingestellt ist. II. Die Bindung an einen Therapeuten ist für den Erkrankten sehr bedeutend. Anton selbst hält von den Psychiatern, die er kennen gelernt hat, nichts. Er hat versucht sich mit Mitmenschen auszutauschen - sie haben ihn abgelehnt, waren keine Therapeuten. Anton verliert das Vertrauen und bleibt allein. Was bleibt, sind die Medikamente. Unsere Zuwendung hat er dankend angenommen, sich gerne unterhalten – auf seine Art. III. Auf so genannte Schübe folgen oft Depressionen. Das werden die Phasen sein, wenn man Anton Preyer sein Unglück ansieht. Wenn er mit zersausten Haaren durch die Bibliotheksgänge streift, den Blick verfinstert und die Augen nach unten gerichtet, um sich an den Fasern der Filzauslegware entlang zu hangeln. IV. Besonders starke Schübe würden durch einschneidende Lebenserfahrungen hervorgerufen. Bei Anton war es vielleicht weit mehr und weit früher, als der Tod seiner Eltern. Er machte Andeutungen über Probleme beim Arbeitsplatz, den Rutsch ins Drogennetz, die soziale Abschiebung. V. Zwischen dem Ausbruch der Schizophrenie und ihrer Erkennbarkeit können Monate vergehen. Soziale Isolation, fehlende Beschäftigung und eine späte Diagnose bestimmen den Krankheitsverlauf negativ. Oft beginne er zwischen Jugend und Erreichen des dreißigsten Lebensjahres. Leistungseinbußen machen sich bemerkbar, so der schulische Abstieg und Probleme mit der Arbeit. Auf die wenigen Daten, die Anton preisgab, passt diese Beschreibung. VI. Zu Beginn der Krankheit kann noch die Einsicht der Erkrankung vermittelt werden, später ist sie nicht mehr möglich. Anton ist in seiner Welt schon lange ein Gefangener, in wenigen lichten Momenten wird er sich dessen bewusst - wenn ich ihn danach frage, was er gelernt hat, wo er herkommt. Ein Bewusstsein, das er nicht mag und beiseite schiebt, um dann wieder abdriften zu können. VII. Schizophrenie ist für viele ein Mysterium. Vorurteile bestimmen die Köpfe, Ablehnung, Intoleranz. Die Krankheit wird sogar von den Erkrankten selbst abgelehnt. Wie Anton es uns sagte: „Wenn man Kreuzworträtsel lösen kann, kann man nicht verrückt sein.“